Der Schatz der Erfahrung

Endlich ist sie da. Unsere neue Chorleiterin.

Seit meiner Depression bin ich Mitglied eines Kirchenchores. Singen befreit und heilt die Seele. Ist sogar wissenschaftlich belegt. Mir macht es einfach nur Freude. Ich hatte auch schon mein erstes Konzert: Die Krönungsmesse von Mozart in einer wunderschönen Kirche.

Wir werden ja zum Glück nicht nur ältern, sondern auch reicher – an wertvollen Erfahrungen
Wir werden ja zum Glück nicht nur ältern, sondern auch reicher – an wertvollen Erfahrungen

Hinterher war ich wirklich kaputt (Singen ist auch anstrengend), aber rundherum glücklich.

Nun haben wir also eine neue Chorleiterin. Unser „Alter“ hatte leider die Pensionsgrenze überschritten und „durfte“ uns nicht mehr leiten. Als ich damals zur ersten Probe in den Chor kam, war ich schon skeptisch. Wie läuft das so? Wie sind die anderen Chorsänger so drauf? Was können sie? Was wird verlangt? Es war ein warmes Willkommen und ich merkte ganz schnell, Mann, die können was und der „Alte“ war absolut begeisternd.

Also nun die „Neue“. Sie ist jung und sehr nett. Es gibt jetzt ein Einsingen, Stimmsprecher, ein Chorkonto, eine neue Sitzordnung und vieles andere mehr. In der ersten Probe freue ich mich auf die wohlverdiente Pause (schnell mal ein Zigarettchen draußen, immerhin muss die Stimme ja geölt werden), da bleiben alle anderen sitzen, es gibt Ansagen und schon geht es weiter. Okay.

Nächste Probe wieder dasselbe. Wir gucken uns an und ich höre nur: „Gib ihr noch ein bisschen Zeit.“
Und da habe ich angefangen nachzudenken. Hey, Antonia, wie war denn das, als du damals zum ersten Mal unterrichtet hast? Ich hatte den kompletten Stundenablauf minutiös geplant und auf Karteikärtchen geschrieben. Jede unvorhergesehene Bemerkung, jede Frage, jeder Zeitverzug wurde innerlich ein ganz großes Problem. Ich musste doch mit meinem Programm durchkommen. Ich wollte doch etwas erreichen. Ich hatte doch ein Ziel. Schließlich wurde ich doch dafür bezahlt, dass ich meinen Schülern mein Wissen beibringe. Sie sollen doch etwas für ihr Geld bekommen.

Tja, da war ich Anfang vierzig. Heute, zehn Jahre später, sehe ich das alles ein bisschen anders. Heute habe ich für jede Unterrichtseinheit Stichworte, was ich machen möchte, um meinen Schülern mein Wissen zur Verfügung zu stellen. Über jede Frage freue ich mich, da sie den Unterricht bereichert und Interesse an der Sache zeigt. Wenn ich merke, die Konzentration lässt nach, mache ich heute einfach eine kurze Pause, und hinterher geht alles wieder leichter von der Hand. Ich habe immer noch ein Ziel, aber ich habe auch einen wunderbaren Leitsatz: Wenn wir keine Zeit haben, nehmen wir sie uns! Seitdem ich so arbeite, bin ich viel entspannter und meine Schüler ebenfalls. Und wir haben alle wieder Freude. Die war nämlich durch meinen Druck abhandengekommen.

In der nächsten Chorprobe saß ich mit einem Lächeln im Gesicht da und freute mich über meine Erfahrungen, die ich in meinem Leben schon sammeln durfte. Ich war einfach nur dankbar. Es ist doch unbezahlbar, dass wir „Alten“ diesen Schatz der Erfahrung haben. (Auch wenn viele Arbeitgeber lieber auf die „Jüngeren“ setzen. Das ist ein anderes Thema und die werden auch alle älter.) Ich freue mich, dass ich unsere neue Chorleiterin beim Anhäufen ihrer „Schätze“ begleiten darf, und auf Ihre Erfahrungen.

Ihre Antonia☺

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